„Aggressive Neutralität“ wurde Pakistan zum Verhängnis

„Aggressive Neutralität“ wurde Pakistan zum Verhängnis

von Rainer Rupp

erschienen am 23. August 2023 auf RT deutsch

Bild: Der Vorsitzende der Grand Traders Alliance, Anser Zahoor Butt, spricht zusammen mit anderen auf einer Pressekonferenz im Presseclub von Lahore am 22. August 2023 zu den Medienvertretern.

Nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 waren und fühlten sich die Vereinigten Staaten als unangefochtene einzige Supermacht. Sie brauchten ihre Beziehungen zu anderen Ländern nicht mehr in umständlichen diplomatischen Verhandlungen mit zumindest formal gleichberechtigten, souveränen Staaten auszuhandeln. Stattdessen ging Washington in den letzten 30 Jahren kraft seiner hegemonialen Dominanz zunehmend dazu über, den anderen Ländern einfach zu diktieren und ihnen bei Nichtbefolgung mit verdeckten Staatsstreichen oder offenen Militärinterventionen den eigenen Willen aufzuzwingen. Dazu gibt es einen alten Witz:

„Warum kann es in den Vereinigten Staaten von Amerika keine Staatsstreiche geben? Antwort: Weil es dort keine US-Botschaft gibt.“

Diese Unfähigkeit der USA, sich gegenüber anderen Ländern der Weltgemeinschaft fair und anständig zu verhalten, sie respektvoll als gleichberechtigte, souveräne Staaten zu behandeln, wie das von der Charter der Vereinten Nationen verlangt wird, war vor wenigen Tagen, am 16. August, Gegenstand einer lebhaften Diskussion mit dem renommierten US-Ökonomen Jeffrey Sachs auf dem geopolitischen YouTube-Kanal „The Duran“. Das Thema war der jüngste von Washington angezettelte Regimewechsel in Pakistan und der Inhalt des inzwischen veröffentlichten Geheimdokuments, das die treibende Rolle der USA beim Sturz des populären, demokratisch mit großer Mehrheit gewählten Staatschefs Imran Khan belegt.

Bei dem als „geheim“ eingestuften Dokument vom 7. März 2022 handelt es sich um eine diplomatische Depesche der pakistanischen Botschaft in Washington an das Außenministerium in Pakistan. Das vollständige Schreiben mit der US-amerikanischen Forderung zur Entfernung des pakistanischen Premierministers Imran Khan wurde von der investigativen Online-Zeitung The Intercept veröffentlicht. Offensichtlich war es von einem Whistleblower, sehr wahrscheinlich von einem hochrangigen pakistanischen Offizier oder Beamten, an The Intercept durchgestochen worden.

In der Depesche berichtet der damalige pakistanische Botschafter aus Washington, Assad Majeed Khan, von einem Mittagessen, das er zuvor mit dem stellvertretenden Staatssekretär für Süd- und Zentralasien, Donald Lu, und dessen Stellvertreterin Lesslie Viguerie gehabt hatte. Er selbst sei von seinem Berater Qasim begleitet worden.

Laut der Depesche hat sich Lu, der im Text kurz Don genannt wird, über Pakistans Position zur Ukraine-Krise beschwert. Hier einige Auszüge aus der Depesche des pakistanischen Botschafters:

„Ich fragte Don, ob der Grund für diese starke Reaktion der USA die Enthaltung Pakistans bei der Abstimmung in der Generalversammlung der UN sei. Er verneinte kategorisch und sagte, dies sei auf den Besuch des Premierministers in Moskau zurückzuführen. Er sagte: ‚Ich denke, wenn das Misstrauensvotum gegen den Premierminister [das die USA verlangten] erfolgreich ist, wird in Washington alles vergeben sein, weil der Russland-Besuch als eine Entscheidung des Premierministers angesehen wird. Ansonsten denke ich, dass es schwierig wird, weiterzumachen.‘ Don hielt inne und sagte dann: ‚Ich kann nicht sagen, wie dies von Europa gesehen wird, aber ich vermute, dass ihre Reaktion ähnlich sein wird.‘ Dann sagte er: ‚Ehrlich gesagt denke ich, dass die Isolation des Premierministers von Europa und den Vereinigten Staaten sehr stark werden wird.‘ Don kommentierte weiter, dass es so aussah, als ob der Besuch des Premierministers in Moskau während der Olympischen Spiele in Peking geplant war und es einen Versuch des Premierministers gab, Putin zu treffen, der nicht erfolgreich war, und dann wurde diese Idee ausgebrütet, dass er nach Moskau gehen würde.“

Soweit einige ins Deutsche übersetzte Auszüge aus der Depesche. Die vollständige Übersetzung ist in Arbeit und wird als Lehrstück für die Vorgehensweise der US-„Diplomatie“ ebenfalls veröffentlicht werden.

Aber nun zurück zur eingangs erwähnten Diskussion mit Jeffrey Sachs auf dem „Duran“-Kanal. Dabei beschreibt Sachs den ihm seit Jahren persönlich bekannten Imran Khan als „großartigen Menschen, der sehr schlau, sehr anständig und sehr mutig ist. Ich habe das große Glück, ihn zu kennen, und natürlich habe ich all die Monate [seit seinem Sturz] mit großer Angst und Beklommenheit zugeschaut. Als er vor einigen Monaten von der Macht entfernt wurde, sagte er natürlich, dass die USA dahintersteckten. Aber das, was er sagte, wurde von den Mainstream-Medien im Westen komplett ignoriert. Da ich aber regelmäßig mit ihm kommunizierte, wusste ich, wovon er sprach“.

Tatsächlich sei nur dank der fortgesetzten tollen Arbeit des The Intercept die Wahrheit herausgekommen. „Die New York Times würde niemals daran denken, so was zu berichten“, so Sachs. „Jetzt aber wissen wir, wie der pakistanische Tiefe Staat von den Vereinigten Staaten bedroht und erpresst wurde, den seit Jahrzehnten beliebtesten Präsidenten loszuwerden.“

Der Kern der Depesche sagt aus, dass die USA sehr unzufrieden mit dem Premierminister waren und sie drohten, dass es für Pakistan schlecht laufen werde, wenn sie (der Tiefe Staat in Pakistan) Khan erlauben würden, weiterzumachen wie bisher. Aber es könnte für sie alle viel besser laufen, wenn etwas anderes passieren würde und Khan nicht mehr Präsident wäre.

Sachs berichtet diesbezüglich auch, dass er Wissen darüber habe, wie es dazu gekommen ist, dass der mit Abstand beliebteste Politiker Pakistans, der Unterstützer in allen Schichten der Gesellschaft hatte, mithilfe eines Misstrauensvotums im Parlament gestürzt wurde. Wörtlich sagte er: „Ich weiß mehr davon, was da gesagt wurde über Bestechung, um gegen Imran Khan zu stimmen, wenn ich es auch nicht mit dem gleichen dokumentarischen Detail belegen kann, wie das bei der Depesche der Fall ist.

Um Imran Khan angesichts seiner Beliebtheit im Volk zu Fall zu bringen, sei „keine leichte Sache gewesen“, führte Sachs weiter aus. Das habe organisierter Anstrengungen bedurft, die als Reaktion auf die Drohungen der USA unternommen wurden. Das sei „typisch für US-Regimewechsel-Operation, die auf der ganzen Welt so viele Probleme schaffen, und wir sehen hier genau, wie es passiert ist“, unterstrich Sachs und fuhr fort:

„Wissen Sie, in den Mainstream-USA wird keine Frage gestellt, niemand kümmert sich darum. Niemand sagt ein Wort, keine Berichterstattung, denn das ist normal. Du sollst nur wegschauen, wenn die USA in diesem oder jenem Staat Regierungen stürzen. Nun, das ist ein normales Geschäft, und das ist es, was wir auch hier verstehen müssen. Das ist ungeheuerlich, weil Pakistan wichtig ist, denn wir sprechen hier über eine Atommacht in einer sehr instabilen Region. Denn jetzt wird aufgedeckt, dass die Vereinigten Staaten nicht nur Partei, sondern auch Anstifter dieses Regimewechsels waren. Von westlichen Regierungen und von den US-Medien keinen Ton. Und so funktioniert das alles leider.

Solche Dinge bringen uns auch zum Krieg in der Ukraine und zu so vielen anderen Konflikten, denn dies ist kein außergewöhnliches Ereignis, sondern die normale Dummheit und Arroganz der Vereinigten Staaten, die die Diplomatie vor Jahrzehnten völlig aufgegeben haben und glauben, dass der Weg zur Außenpolitik ein Regimewechsel mit verdeckten oder offenen militärischen Mitteln ist.“

Hier hat Sachs den Nagel auf den Kopf getroffen. Kein Land in der Welt schätzt es, wenn das US-Damoklesschwert in Form eines Regimewechsels einem ständig über dem Kopf schwebt. „Andere Länder mögen es auch nicht, wenn Regierungen ihrer Nachbarn auf Geheiß der USA gewechselt werden“, meinte Sachs und fügte hinzu: „Aber der US-amerikanische Schurkenstaat ist süchtig danach. Dies ist die Ursache des Problems“, sagte Sachs und forderte die Zuschauer auf, sich selbst schlauzumachen und das „wunderbare Buch von einer sehr, sehr klugen jungen Assistenzprofessorin am Boston College, Lindsay O’Rourke, zu lesen, die akribisch alle US-Regimewechsel-Operationen von 1947 bis 1989 – also während des Kalten Krieges – untersucht und belegt hat.“

Insgesamt habe es in dieser Zeit 70 von den USA durchgeführte Regimewechsel gegeben. Davon fanden 64 verdeckt statt. Bei ihrer Arbeit habe O’Rourke ausschließlich auf offizielle, inzwischen freigegebene US-Daten zurückgegriffen. Dann rechnete Sachs vor: „64 verdeckte US-Regimewechsel-Operationen in etwas mehr als 40 Jahren, das heißt eineinhalb pro Jahr.“ Und eine Operation nach der anderen habe sich anschließend als Misserfolg herausgestellt, wobei viele zu Katastrophen führten: Destabilisierung, Bürgerkrieg und Terrorismus. O’Rourke habe das in ihrem Buch akribisch dokumentiert, so Sachs. 

Inzwischen müsste das Buch allerdings auf den neuesten Stand gebracht werden, zum Beispiel mit dem US-orchestrierten, verdeckten, aber blutigen Regimewechsel von 2014 in der Ukraine. Dabei wurde der demokratisch gewählte Präsident Wiktor Janukowitsch 2014 gestürzt. Es folgte ein Bürgerkrieg im Donbass, der zum Ausgangspunkt des aktuellen Kriegs in der Ukraine wurde. Auch der verdeckte Putsch gegen Khan müsste in die aktualisierte Liste aufgenommen werden.

Zurück zum O-Ton von Sachs:

„Bis die Vereinigten Staaten lernen, ihr ziemlich schlechtes Verhalten zu stoppen und wieder zur Diplomatie zurückkehren, werden wir weiter in einer außerordentlich gefährlichen Welt leben. Es sind vor allem die USA, die die Welt so gefährlich machen, indem sie heimlich Regierungen stürzen (…) Ich finde es übrigens erstaunlich, dass die US-Medien den Menschen in Pakistan sagen, dass der Sturz ihres geliebten Premierministers Imran Khan die Situation in Pakistan verbessern wird. Es wird jetzt offensichtlich noch schlimmer werden, so wie in der Analyse von O’Rourke in ähnlich gelagerten Fällen beschrieben: Bürgerkrieg, Chaos, weitere Attentate.“

Da sei es nur verständlich, dass die Empörung in Pakistan gegen den US-Hegemonen noch weiterwachsen wird. Die Leute seien wütend, dass ihnen die Zukunft ihres Landes von einer machtbesessenen, skrupellosen Elite in den USA gestohlen wurde, ergänzte ein anderer Kenner der Materie, Alexander Mercouris, in der Diskussion auf dem „Duran“-Kanal Sachs‘ Prognose für Pakistan. Zudem sei es in jeder Hinsicht von Washington ausgesprochen dumm gewesen, verdeckt zu operieren, wenn jeder im Land ohnehin von Anfang an Bescheid wusste, wer das angezettelt hatte. Dadurch werde die Position der USA sowohl in Pakistan als auch im Rest der Welt untergraben.

Tatsächlich wurde rund um die Welt in den Ländern der Dritten Welt über die bei The Intercept veröffentlichten Depesche berichtet, die die US-Regierung eindeutig als Strippenzieher hinter dem Putsch identifiziert.

Abschließend hat Sachs in seiner typischen ironisch-sarkastischen Art die Verhaltensweise Washington zusammengefasst, was den RT-DE-Lesern nicht vorenthalten werden sollte:

„Das Verblüffende bei der ganzen Sache ist natürlich, worin bestand Imran Khans sogenanntes ‚Verbrechen‘, das den Zorn der USA über ihn gebracht hat? Sein Fehler war, dass Imran Khan sowohl mit den Vereinigten Staaten als auch mit China und mit Russland befreundet sein wollte. Seine ganze Botschaft war: Wir wollen gute Beziehungen zu allen haben. Das aber hat die USA sehr verärgert. Ihr dürft nicht zu jedem gute oder sehr gute Beziehungen haben. Denn wenn ihr nicht gegen unsere Feinde seid, dann seid ihr gegen uns. Wenn du nicht für uns bist, bist du gegen uns.“

Das wird ganz deutlich in der vom pakistanischen Botschafter in Washington geschilderten Gesprächspassage, in der er argumentiert: „Nur weil Pakistan mit anderen Ländern Handel treibt, sind wir doch nicht auf der Seite der Feinde der USA!“ Aber seinen hochrangigen Gesprächspartner Don vom US-Außenministerium konnte er nicht umstimmen. Normale Beziehungen zu anderen Ländern ohne US-Zustimmung sind offensichtlich schon ein Verstoß gegen die „regelbasierte Ordnung“ Washingtons. „In diesem Fall können Sie kein Freund von uns sein“, war Dons Antwort.

Diese verrückte, großimperialistische Haltung, bei der Washington erwartet, dass die Außenseiter aus den Entwicklungsländern sich dem Thron des Imperators in Washington nur auf den Knien nähern, mit gebeugtem Kopf und den Augen nach unten gerichtet, ist die tief verwurzelte Denkweise der Führung der Vereinigten Staaten, die bedingungslose Unterwerfung zu fordern.

Khans Verbrechen war, dass er sich den von den USA verhängten Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen und die Beziehungen zu Moskau nicht abgebrochen hat. Khan hat sich geweigert, Dinge zu tun, die dem pakistanischen Volk massiv geschadet hätten. Kein Anführer eines wirklich souveränen Landes auf der Erde würde sich anders verhalten als Imran Khan. Die bekannten traurigen Ausnahmen stellen die gekauften und bezahlten Eliten der Vasallenstaaten Washingtons dar. Das ist am Beispiel Deutschlands leicht zu erkennen, denn auch hierzulande wird im vorauseilenden Gehorsam die Lebensgrundlage des Volkes für ein gnädiges Lächeln aus Washington verkauft. Das ist die Funktionsweise der USA-diktierten „regelbasierten internationalen Ordnung“. Kein Wunder, dass rund um den Erdball immer mehr Länder der Dritten Welt versuchen, sich aus dieser US-Ordnung zu befreien und aktuell in Südafrika Schlange stehen, um in die BRICS aufgenommen zu werden.