Atlantic Council – Vom Thinktank zur Fabrik für Hetzschriften

Atlantic Council – Vom Thinktank zur Fabrik für Hetzschriften

erschienen auf RT Deutsch am 13. März und 14. März 2021

Das auf dem intellektuellen Niveau der Bild-Zeitung verfasste Papier des Atlantic Council dürfte allerdings selbst unter eingefleischten transatlantischen Kriegstreibern in Europa kaum begeisterte Leser finden. Es ist einfach zu primitiv in seiner Argumentation, zu dürr an belastbaren “Fakten”, in sich selbst zu widersprüchlich, zu offensichtlich in seinem geifernden Hass auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin und zu blind in seinen einseitigen “Schuldzuweisungen” an den Kreml, der inzwischen für alle innen- und außenpolitische Probleme des Westens verantwortlich gemacht wird. Groteskerweise stellt der Atlantic Council das Papier als eine “in die Tiefe gehende Recherche” vor. Zugleich behaupten die beiden Autoren mit frecher Scheinheiligkeit, den Bericht aus Sorge um die Zukunft und das Wohlergehen des russischen Volkes verfasst zu haben.

Tatsächlich unterscheidet sich der vorliegende Bericht des Atlantic Council kaum noch von den anderen beschämenden Nachrichten, die in den letzten Jahren zunehmend aus den USA zu uns herüberschwappen. Wie ein hochansteckendes Virus wurden auch sie hier von Politik und Medien weiterverbreitet und haben das gesellschaftliche Leben vergiftet. Das gilt insbesondere für die Fake-Nachrichten über die Weltpolitik der USA als angeblicher Friedensmacht und Hüter der Menschenrechte, die von den sogenannten “Thinktanks” und selbst ernannten “Qualitätsmedien” mitsamt ihren vermeintlichen Konkurrenten wie Twitter, Facebook und Co. weiterverbreitet werden.

Dazu gehört aber auch die von der Führung der “Demokratischen Partei” der USA und von der Einheitsfront sogenannter “liberaler” Medien gepflegte Mär, dass der Ex-Präsident Donald Trump ein russischer Einflussagent wäre, der von seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin angeblich an der langen Leine geführt wurde. Das war kein idiotischer April-Scherz, sondern todernste Politik, die in den USA die letzten vier Jahre lang das Geschehen dominierte. Auch hierzulande wurde diese Mär von unseren Politikern und Medien fleißig im Sinne der neoliberalen, US-geführten Weltordnung weiterverbreitet.

Andere Meinungen dazu wurden nicht geduldet und werden es heute noch weniger. Wer den Wahnsinn trotzdem beim Namen nannte, wurde nicht selten “gecancelt”; verlor seinen Job und sein Einkommen und wurde zur Unperson. Die gleiche Strafe ereilte jeden, der berechtigte Zweifel an etlichen Aspekten der US-Briefwahl für das Präsidentenamt im November 2020 öffentlich artikulierte. Inzwischen wird man für die Äußerung solcher Zweifel von den selbsterklärten Wächtern der amerikanischen Demokratie und Toleranz bereits in die Nähe von Terrorismus gerückt. Das ist keine Übertreibung. Nach zwei Jahrzehnten pausenloser verbrecherischer US-Kriege gegen den angeblichen “globalen Terrorismus” arbeitet nun die Biden-Regierung an neuen Gesetzen zur Bekämpfung des “Internen Terrorismus”, um die 74 Millionen “gefährliche” Trump-Wähler politisch oder “anderswie” zu neutralisieren.

Zugleich verbreitet sich nicht nur in den USA, sondern im gesamten Wertewesten der Wahnsinn der “Wokeness”, “Black Lives Matter (BLM)”, “LGBTQ2S+” und “Antifa”-Bewegungen immer schneller. Die verschwurbelten Ideologien dieser, der “Demokratischen Partei” nahestehenden Extremisten dominiert inzwischen auch weite Bereiche der Gesellschaftswissenschaften; sogar in den US-Eliteuniversitäten. Selbst die Beherrschung der Mathematik wird inzwischen von diesen BLM-Ideologen als Herrschaftssymbol der “weißen Herrenrasse” interpretiert. So hat etwa die afroamerikanische Lehrerin und BLM-Aktivistin Brittany Marshall im Juli 2020 auf Twitter im Rahmen einer Diskussion über den Rassismus der Weißen allen Ernstes behauptet:

“…die Idee von 2 + 2 gleich 4 ist kulturell bedingt, und nur wegen des westlichen Imperialismus/Kolonisierung betrachten wir dieses Ergebnis als die einzige Möglichkeit.”

Und als alternative Rechenart nannte Frau Marshall die Methode der australischen Ureinwohner, die mit Bildern und nicht mit abstrakten Zahlen rechnen.

Die Vision des Amerika-Kenners und einstigen französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau (1841-1929), dass die Vereinigten Staaten wohl das einzige Land seien, dessen “Entwicklung von der Barbarei direkt zur Dekadenz geht, ohne den Umweg über Kultur und Zivilisation zu machen”, scheint sich heutzutage immer deutlicher zu bestätigen. Von dieser Entwicklung sind offensichtlich auch die sogenannten US-Thinktanks betroffen.

Zwar dienten diese “Denkfabriken” schon immer den Interessen derjenigen Kapitalfraktion, von der sie gerade bezahlt wurden. Aber selbst zu Zeiten des Kalten Krieges haben viele dieser Institute solide wissenschaftliche Arbeit über die internationalen Ursachen und Wirkungen von Krisen geleistet. Das weiß der Autor dieser Zeilen aus eigener Erfahrung. Er hat in den 1980er Jahren zu einigen Studien von namhaften US-Thinktanks im Auftrag des NATO-Generalsekretärs beigetragen, so beispielsweise zu dem 1984 unter dem Titel “China Policy for the Next Decade” erschienenen Bericht des Atlantic Council. Dass in den Schlussfolgerungen der damaligen Berichte stets eine einseitige, politische Gewichtung zugunsten der jeweiligen US-Position stattfand, war nicht anders zu erwarten. Aber verglichen mit dem, was heute aus diesen “Denkfabriken” kommt, war das eine lässliche Sünde.

Heute unterliegt die Arbeit der US-Denkfabriken den gleichen Verfallserscheinungen, die allgemein in Politik, Medien und Gesellschaft der USA zu beobachten sind. Sie sind zu primitiven Propaganda-Apparaten von Lobbyisten verkommen. Hinter der Maske der Wissenschaftlichkeit und mit angeblich “in die Tiefe gehenden Recherchen” tun sie nichts anderes mehr, als für ihre Auftraggeber aus den herrschenden Eliten heiße Luft zu blasen und Schaum zu schlagen. Der vorliegende Bericht des Atlantic Council über “Russland nach Putin” ist dafür ein Musterbeispiel.

Nach logischer Konsistenz sucht man in dem Bericht vergeblich. Interne Widersprüche sind den beiden Autoren Anders Åslund (ein schwedischer Laisser-faire-Ökonom) und Leonid Gosman (ein russischer, Laisser-faire-Exil-Politiker) ebenso egal wie den Verantwortlichen des Atlantic Council, die das primitive Machwerk mit viel Medien-Tam-Tam veröffentlicht haben; Hauptsache das dümmliche Narrativ vom bösen Putin und seinen Schergen in Moskau, die das russische Volk bis aufs Blut aussaugen, wird mit dieser billigen “Recherche” bedient.

Dabei wird bei der Lektüre des Papiers jedem politisch halbwegs gebildeten Menschen schnell klar, dass die von den Autoren gegen den Kreml erhobenen Vorwürfe im luftleeren Raum hängen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Denn die von ihnen gegen den Kreml erhobenen Vorwürfe treffen fast alle passgenau auf die kriminellen Machenschaften der Kriegstreiber in Washington zu.

So werfen die Autoren z.B. dem “Putin-Regime” vor, Russland in zahlreiche Konflikte verwickelt zu haben, “sowohl in der Nähe seiner Grenzen als auch im Ausland, Südossetien (2008), Region Donezk (2015), Syrien (2017) und Berg-Karabach (2020)”.

Dieser Vorwurf ist geradezu lächerlich, und wenn er von Bewunderern des US-Systems kommt, dann ist es sogar pure Demagogie. Denn im Unterschied zu den Dutzenden von aktuellen Kriegen und kriegsähnlichen Operationen der USA und der Westlichen Wertegemeinschaft rund um die Welt, ist Russland in keinem dieser im Bericht genannten Fälle der Aggressor oder Besatzer! Vielmehr steht alles im Einklang mit dem Völkerecht, im Unterschied zu den westlichen Angriffskriegen, die laut Völkerrechtsdefinition das “schlimmste aller Verbrechen” sind, weil in ihnen alle anderen Verbrechen wohnen: Raub, Mord, Folter, Vergewaltigung. Totschlag usw.

Bei der Erklärung, warum Russland außenpolitisch vor den Forderungen des Westens einknickt und so handelt wie es handelt, machen es sich die beiden Russlandexperten des Atlantic Council sehr einfach. Sie recherchieren nicht, sondern behaupten nur, wobei sie die unter russophoben Falken verbreiteten Klischees und primitiven Stereotypen vom bösen russischen Zaren Putin und seinen kriminellen Kumpanen bedienen, wovon die nachfolgenden Ausschnitte aus ihrem Bericht zeugen:

“Die Grundidee von Putins Außenpolitik scheint darin zu bestehen, alle postsowjetischen Nachbarn Russlands, Europa und die Vereinigten Staaten zu verärgern, um das Sicherheitsgefühl der Russen zu verringern, während eine vernünftige Außenpolitik darauf abzielen würde, die nationale Sicherheit zu verbessern. Russlands Nachbarn wenden sich ab, soweit sie das können und es wagen. Die Vereinigten Staaten und Europa haben Russland schwere persönliche und sektorale Sanktionen auferlegt, die die wirtschaftliche Integration minimiert haben.”

oder

“Russland würde von einem Ende des amoralischen und bedeutungslosen Krieges im Donbass profitieren, aber für die (Kreml)Elite ist dies ein Mittel, um ihre Macht zu legitimieren. Russland kann sich nicht normal entwickeln, solange diese Gruppe an der Macht bleibt.”

oder

“Die Außenpolitik des Kremls hat ein ganz anderes Ziel, weit entfernt von den nationalen Interessen Russlands – nämlich das persönliche Prestige und die Achtung Putins zu bewahren. Putin macht sich keine Sorgen um die Lösung konkreter Probleme, sondern strebt danach, seinen Platz in der Geschichte zu sichern. Er will in Erinnerung bleiben … als der Mann, der sich den Vereinigten Staaten und dem Westen entgegenstellte und sie besiegt hat. … Da Putin solch unpragmatische Ziele verfolgt, kann er keine langfristigen Abkommen mit dem Westen erreichen. Schlimmer noch, er ist nicht einmal an einem solchen Unterfangen interessiert. Der Westen sollte dies besser erkennen und verstehen, dass er nur unbedeutende Vereinbarungen mit Russland treffen kann, solange Putin und seine Clique Russland regieren.”

Daher kann die Schlussfolgerung für die Eliten der westlichen liberalen Weltordnung nur lauten: Solange Putin an der Macht ist, haben wir in dem an Bodenschätzen so unendlich reichen Russland nichts zu melden. Deshalb muss Putin weg. Das sehen auch die beiden Autoren so.

Kurioserweise machen die beiden Autoren Russlands starke Energiewirtschaft für die von der westlichen Wertegesellschaft beklagten Demokratiedefizite im Land verantwortlich:

“Der stärkste Grund für Russlands demokratische Rückständigkeit scheint seine große Abhängigkeit von Öleinnahmen zu sein. Angesichts des niedrigen globalen Ölpreises wächst daher die Hoffnung auf Demokratisierung in Russland. Die Regierung wird sich dann stärker aus Steuern finanzieren müssen, die von der Bevölkerung gezahlt werden, die mehr Einfluss auf die Regierungspolitik verlangen. Wenn die Staatseinnahmen knapper werden, kann die Regierung nicht mehr so viel für Repression ausgeben, was sie zwingt, das russische Volk ernster zu nehmen. Wenn die Öl- und Gasbarone an Glanz verlieren, werden andere Unternehmer – vermutlich vor allem die Hightech-Unternehmer – an Glanz gewinnen, und die Regierung wird zögerlicher werden, sie aus dem Land zu verjagen, wie sie es heute tut.”

Aus diesem konfusen Durcheinander folgern dann die beiden akademisch gebildeten Autoren:

“Das Beste, was für Russlands demokratische und wirtschaftliche Entwicklung geschehen kann, ist also ein niedriger Ölpreis.”

Da dies sicherlich ebenso für russische Gasexporte gilt, ließe sich daraus ableiten, dass es am besten für die Entwicklung der russischen Demokratie wäre, wenn Nord Stream 2 nicht vollendet wird und wir Deutsche auch sonst kein Öl und Gas mehr beim Russen, sondern nur noch beim Ami kaufen. Dann wird Russland in die Knie gehen, Putin wird vom Volk davongejagt, die demokratischen westlichen Ölkonzerne kommen dann nach Sibirien, um dort demokratische Aufbauarbeit zu leisten und schon bald können wir dann in Europa wieder russisches Gas kaufen – mit dem Unterschied, dass der Profit dann wenigstens in den Taschen westlicher Konzerne landet, statt im Haushalt des russischen Staates.

Pressekonferenz nach einem Forum unter dem Motto “Pulling at the Strings: The Kremlin’s Interference in Elections” im Atlantic Council, 16.07.2018

Aus der Sicht der beiden Autoren des vom Atlantic Council veröffentlichten Machwerks sieht die Zukunft Russlands unter dem Präsidenten Putin düster aus. Hier einige weitere Auszüge aus dem Bericht:

“Das Putin-Regime wird gemeinhin als autoritäre Kleptokratie bezeichnet. Sie ist von einer kleinen herrschenden Elite geprägt, die alle Macht und den größten Reichtum an sich gerissen hat. Diese Macht konzentriert sich auf den Präsidenten, der einen Großteil davon an die Geheimpolizei delegiert. Die Klienten des Präsidenten kontrollieren die Staatsfinanzen und die Großkonzerne. Dabei kann es sich um Staatsbeamte oder private Geschäftsleute handeln. Die Strafverfolgung und das Justizsystem sind dem Präsidenten untergeordnet.”

“Der Hauptgrund für die unglückliche Situation des russischen Volkes liegt darin, dass die gegenwärtige Elite die aktuellen Realitäten nur noch unzureichend wahrnimmt und einfach auch nur zu kriminell ist. Praktisch sind alle Mitglieder der höheren Führung des Landes in Korruption und andere Verbrechen verwickelt.”

“Das Putin-Regime entwickelt sich weiter, obwohl das Wort ‘Entwicklung’ unangebracht ist, denn das Regime fällt auseinander.”

“Das grundlegende Problem ist, dass Putins Regime sich nicht um das Wohlergehen der Bevölkerung kümmert, sondern nur um seine eigene Macht, seinen Reichtum und die Wahrnehmung seiner Macht nach außen.”

Etwas später im Bericht wird dieses düstere Bild von Russland jedoch auf den Kopf gestellt und eingeräumt, dass die russische Wirtschaft recht solide dasteht. Aber den guten Zustand der russischen Wirtschaft verdanken die Russen laut beiden Autoren nicht etwa dem Zurückdrehen der unter Präsident Jelzin entfachten chaotischen Privatisierungen und “Reformen”, sondern dem selbstlosen und unermüdlichen Einsatz der beiden großen Privatisierer Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais für diese Reformen. In der Zeit am Anfang der 1990er Jahren sehen die Autoren auch die Blütezeit der Demokratie in Russland. Im O-Ton lautet das so:

“Die russische Wirtschaft gibt heute dank der Jelzin-Gaidar-Tschubais-Reformen Anfang der 1990er Jahre kaum Grund zur Sorge. Ein Land muss sich an seine wahren Helden erinnern, um vorankommen zu können. Russland verfügt derzeit über eine recht stabile Makro-Ökonomie mit niedriger Inflation, minimalem Haushaltsdefizit und (minimaler) Staatsverschuldung sowie über große internationale Währungsreserven. Russland verfügt über eine starke Zentralbank und ein starkes Finanzministerium sowie über ein einigermaßen gut funktionierendes Steuersystem. Diese Institutionen erfordern keine größeren Reformen. Russland hat auch eine gut funktionierende Marktwirtschaft, auch wenn die staatliche Einmischung übertrieben ist. Schließlich hat das Land zahlreiche kleine und mittlere Privatunternehmen. Die Struktur der Wirtschaft hat sich seit der Sowjetzeit völlig verändert.”

Tatsächlich steht die russische Wirtschaft heute – trotz westlicher Sanktionen und der Corona-Krise – ziemlich gut und stabil da, erst recht, wenn man sie mit den maroden, überschuldeten, gesellschaftlich und sozial zerrütteten Staaten der westlichen Wertegemeinschaft vergleicht. Auch der durch Corona bedingte und von den Sanktionen verstärkte Einbruch des Wirtschaftswachstums war relativ mild und nur von kurzer Dauer. Einer aktuellen Einschätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF/IMF) zufolge soll Russlands Bruttoinlandsprodukt (BIP) trotz aller Widrigkeiten bereits Ende dieses Jahres sein vor der Corona-Krise gesehenes Niveau wieder erreichen. Dagegen werden die EU- und NATO-Staaten aufgrund schwerer struktureller Verwerfungen in Wirtschaft und Finanzen und wegen schweren Missmanagements während der Corona-Krise viel länger brauchen, um wieder auf die Füße zu kommen.

Trotz dieser guten Position der russischen Wirtschaft, welche die beiden Autoren in ihrem Atlantic Council Bericht auch anerkannt haben, malen sie im nächsten Kapitel die Zukunft der russischen Wirtschaft wieder schwarz in schwarz, woran natürlich Putin und sein “Regime” schuld sind. Weiter im O-Ton des Berichts:

“Der Hauptgrund für die gegenwärtige wirtschaftliche Stagnation Russlands (wofür es keinen Beleg gibt; Anm. des Autors) sind die Bemühungen der herrschenden Putin-Clique, sich durch die Ausbeutung natürlicher Ressourcen zu bereichern. Allerdings kann der Putin-Wirtschaftskrebs mit vielen Mitteln bekämpft werden: Transparenz, Deregulierung, offene Märkte, Unternehmensfreiheit und Privatisierung.”

Hier (wie an anderen Stellen im Bericht) wird immer wieder unterstrichen, dass Russlands Heil nur in einer totalen Öffnung zum Westen hin liege, also in seiner Integration in das neoliberale wirtschaftliche und politische System der US-geführten Weltordnung. Vor diesem Hintergrund werden sogar Russlands Stärken – wie seine so extrem geringe Auslandsverschuldung – noch als Schwäche und angebliche Zeichen der Misswirtschaft Putins ausgelegt, wie nachfolgender Ausschnitt zeigt:

“Russlands aktuelle Außenpolitik erscheint als großer Misserfolg. Sie hat Russland isoliert. Das Land unterliegt massiven internationalen Sanktionen und ist nicht in der Lage, ausländische Investitionen oder Talente anzuziehen. Es hat Russland fast zu einem Schurkenstaat gemacht.”

“Infolge dieser Politik war Russland gezwungen, größere Währungsreserven zu halten und Auslandsschulden abzubauen, als wirtschaftlich vernünftig gewesen wäre, während zugleich (Putins) Außenpolitik Russlands zu hohen Militärausgaben zwang. Wenn das Ziel der Regierung jedoch darin bestehen würde, die nationale Sicherheit zu erhalten und das wirtschaftliche Wohlergehen der Bevölkerung zu maximieren, dann würde diese Politik keinen Sinn ergeben.”

Was die Autoren hier vermitteln wollen, ist, dass sich Russland seine Militärausgaben sparen und sich ohne Angst bis zum Hals an den westlichen Finanzmärkten verschulden könnte, wenn es sich also nur der westlichen Ordnung unterwerfen würde. Diesen Punkt versuchen die beiden Autoren mit dem nächsten Absatz entsprechend zu verstärken:

“Während andere Schwellenländer von billigen internationalen Finanzmitteln profitierten, war Russland gezwungen, seine Auslandsverschuldung von 720 Milliarden Dollar im Januar 2014 auf 464 Milliarden Dollar im September 2020 zu senken, und es ist seit Sommer 2018 auf einem ähnlich niedrigen Niveau geblieben.”

Die beiden Autoren kennen sich aus in der Kunst der Verdrehung, womit eine positive Situation scheinbar ein Dilemma ist. Denn eine niedrige Auslandsverschuldung und ausreichende Devisenreserven ergeben einen Zustand, der in der Wirtschaft allgemein als positiv gewertet wird. Im Fall Russlands wird das von den Autoren ins Gegenteil verdreht.

Um die Auslandsverschuldung eines Landes korrekt darzustellen, muss man sich auch die Netto-Position anschauen, also Auslandsschulden gegen Devisen- und Goldreserven verrechnen. Mit Reserven im Wert von mehr als 500 Milliarden Dollar hat Russland keine Schulden, sondern ein Netto-Guthaben im Äquivalent von plus 30 Milliarden Dollar.

Tatsächlich ist Russlands Null-Netto-Staatsverschuldung einzigartig unter den großen Volkswirtschaften der Welt. Zum Vergleich: Die USA sind heute weltweit der größte Schuldner, sowohl nominal als auch relativ mit einer Bruttoverschuldung (privat und öffentlich) in Höhe von 256 Prozent ihres BIP, von denen 58 Prozent in Privatbesitz sind, so der IWF. Auch die Staatsverschuldung der EU-Länder liegt in der Regel bei weit über 100 Prozent des jeweiligen BIP. Welcher Staat hat daher eine bessere Ausgangsposition, um aus der gegenwärtigen Krise herauszukommen und um in die Zukunft zu investieren, Russland oder die maroden westlichen Staaten?

Und ausgerechnet in der totalen Integration Russlands in den Verbund dieser maroden westlichen Staaten soll Russlands Zukunft liegen? Das beschreiben die beiden Autoren nachfolgend mit blühender Fantasie:

“Wirtschaftlich sollte Russland mit entwickelten Volkswirtschaften in Europa, Nordamerika und Asien (Japan und Südkorea, Anm. des Autors) zusammenarbeiten. Russland hat ein enormes Potenzial für High-Tech-Entwicklung mit seinem großen Humankapital in Ingenieurwesen und Mathematik, das im Ausland unter Putin verschwendet und verängstigt wurde. Dieses Kapital wird am besten durch eine intensive Integration mit den am weitesten fortgeschrittenen Volkswirtschaften entwickelt. Das erfordert die Freiheit von Handel, Arbeit, Dienstleistungen, Kapital und Investitionen. Russland sollte versuchen, vorteilhafte Abkommen über die bilaterale Integration mit der Europäischen Union (EU), Nordamerika und Ostasien zu schließen, was nicht in Frage kommt, solange Russland westlichen Sanktionen unterliegt.”

Die beiden Autoren zeigen sich aber “optimistisch”, dass die Entwicklung in Russland in diese Richtung geht. Es sei keine Frage des “ob”, sondern nur noch des “wann”:

“Unsere optimistische Schlussfolgerung ist, dass Russland sich auf eine große Zukunft der Freiheit, der Rechtsstaatlichkeit, des Privaten Unternehmertums und des steigenden wirtschaftlichen Wohlergehens freuen kann, sobald der veraltete Despotismus Putins beseitigt ist, aber wir wagen es nicht vorherzusagen, wann.”

Für diese erhofften Umwälzungen haben die beiden Autoren bereits ganz am Anfang ihres Berichts einige Empfehlungen als Schlüsselelemente formuliert, nämlich wie der neue, revolutionäre russische Staat in der Post-Putin Ära nach einem erfolgreichen “Regimewechsel” wieder zu einer marktkonformen Demokratie zurückkehren könnte, etwa so wie zu den glücklichen Zeiten unter Jelzin. Diese drei recht abstrusen und realitätsfernen Schlüsselelemente lauten: 

1. Die erste Maßnahme der neuen Regierung sollte darin bestehen, alle politischen Gefangenen freizulassen und alle elementaren Freiheiten der Rede, der Medien, der Versammlung, der Organisation und der Religion herzustellen.

2. Die neue Regierung sollte den Föderalen Sicherheitsdienst (FSB), die wichtigste Sicherheitsbehörde Russlands, auflösen und alle ihre Mitarbeiter entlassen und ein neues Justizsystem, neue Gerichte sowie eine neue Generalstaatsanwaltschaft aufbauen.

3. Russland sollte sein Präsidialsystem aufgeben und schon bald nach einem demokratischen Umbruch Gründungswahlen auf allen Ebenen abhalten.

Der Weg zu dieser neuen, schönen Welt wird dann von den beiden Autoren direkt im anschließenden Kapitel des Berichts mit dem Titel: “Regime Change” (Regimewechsel) beschrieben. Allerdings führt dieser Weg nicht in die Zukunft, sondern direkt zurück in die chaotische Vergangenheit Russlands der 1990er Jahre unter dem Alkoholiker Jelzin als damaligem Präsidenten. Der hatte die Ausplünderung seines Landes durch westliche Konzerne und skrupellose Abenteurer überhaupt erst ermöglicht, und auch die beiden Autoren des vorliegenden Berichts haben dabei kräftige Hilfestellung geleistet.

Diese Zeit eines von Chaos und Zusammenbruch gezeichneten Russlands haben die beiden Autoren offensichtlich in bester Erinnerung, denn damals waren sie selbst noch hoch dotierte Berater von führenden Mitgliedern der korrupten Jelzin-Regierung, nämlich der beiden Meister-Privatisierer Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais.

Zweifelsohne profitierten auch sie von den damaligen betrügerischen Privatisierungen und der gewollten, möglichst schnellen und planmäßigen Zerstörung der sowjetischen Industriestruktur. Dies ging auf Kosten von Zigmillionen von verarmten Arbeitern ohne Arbeitslosenunterstützung und Rentnern ohne Renten. Zugleich lagen das Gesundheits- und Bildungssystem in Scherben. Aus Sicht der beiden Autoren allerdings war das die Zeit, in der die westlichen Werte wie Freiheit und Demokratie in Russland aufblühen konnten. Zwischen den Zeilen ihres Berichts kann man erkennen, dass sie genau diese Zeiten für Russland zurück ersehnen. Und mit diesen Zeiten würden sie, wenn es nach ihnen ginge, das russische Volk nach der Ära Putin gerne erneut beglücken.