„Onshore Aegis“ in Osteuropa – Teil des US-Strebens nach strategischer Vorherrschaft
von Rainer Rupp
erschienen am 24.Mai 2016 via KenFM
Neue US-Raketen in Bulgarien und Polen destabilisieren nukleares Gleichgewicht. Damit unterminiert Washington den INF-Abrüstungsvertrag mit Russland über atomare Mittelstreckenwaffen und drängt zugleich Europa mit Macht in einen neuen Kalten Krieg.
Von Rainer Rupp.
Als am 13. Mai der US-Kriegspräsident Obama in Washington die Regierungschefs von Schweden, Dänemark, Finnland, Island und Norwegen empfing, verurteilte er in aller Schärfe „die wachsende Präsenz und aggressive militärische Haltung Russlands in der Ostsee und im Nordmeer.“ Zugleich bekräftigt er die US-Verpflichtung für „die kollektive Verteidigung Europas.“ Diese Verpflichtung hatte er tags zuvor mit handfesten Fakten unterstrichen, als in Rumänien die Deveselu -Air Base eingeweiht wurde, auf der das neue US-„Aegis Ashore“ Raketensystem von Lockheed-Martin installiert ist, das den offiziellen US- und NATO-Angaben zufolge angeblich der „Abwehr eines möglichen ballistischen Raketenangriffs von Iran oder Nordkorea dienen“ soll und „nicht gegen Russland“ gerichtet ist. Als in einem Interview mit einem deutschen Journalisten Präsident Wladimir Putin diese Erklärung für die gefährliche Aufrüstung vor den Toren Russlands angeboten wurde, brach er in lautes Lachen aus.(1)
Das hält die westlichen Kriegsherren nicht davon ab, dieses Märchen weiterhin zu erzählen, nach dem Motto: je dreister die Lüge und je öfter sie wiederholt wird, desto eher wird sie geglaubt. Entsprechend dankte der rumänische Marionetten-Premierminister Dacian Ciolos bei der Einweihungszeremonie der neuen US-Raketenbasis den Vereinigten Staaten, weil mit einer solchen Anlage, „die erste ihrer Art mit einem landgestützten Aegis-System“, die Fähigkeit nachhaltig verbessert worden sei, „die europäischen Verbündeten gegen ballistische Raketen von außerhalb des euro-atlantischen Raums“ zu verteidigen.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der ebenso wie der stellvertretende US-Kriegsminister Robert Work zur Einweihungsfeuer herbei geeilt war, kündigte dann den Beginn der Arbeiten in Polen für eine weitere „Aegis Ashore“ Basis an. Die beiden landgestützten Raketenbasen mit Aegis-System ergänzen die vier seegestützten Aegis-Systeme, die auf 4 US-Lenkwaffen-Zerstörer und -Kreuzer permanent im Mittelmeer, im Schwarzen Meer und in der Ostsee operieren, unterstützt von einem leistungsstarken Aegis-Radar in der Türkei und einer US-Kommandozentrale in Deutschland.
Dennoch versicherte NATO-Chef Stoltenberg ganz ungeniert, dass „die neue Raketenbasis in Rumänien, ebenso wie die Polen, nicht gegen Russland gerichtet ist“. Zur Bekräftigung dieser Aussage gab folgende technische Erklärung ab: der Standort Sitz in Rumänien, „der eine fast identische Technologie verwendet, wie auf den Aegis-Schiffen der US-Kriegsmarine“, liege geographisch „zu nahe an Russland, um russische ICBMs (Interkontinentale Ballistische Raketen) abzufangen“.
Was der NATO-Generalsekretär hier anspricht, ist die vom Kreml zurecht gehegte Befürchtung, dass die USA mit dem Aufbau der Aegis-Systeme zu Land und zur See rund um Russland das Ziel verfolgen, ein zuverlässiges System zum Abfangen von ballistischen Raketen (im Fachjargon „Counter Force“) zu installiere, mit dem Moskaus nukleare Abschreckung neutralisiert werden kann. Dies würde den Kriegstreibern in Washington die Möglichkeit eines nuklearen Erstschlags zur Zerstörung des Großteils der russischen Atomstreitkräfte sowie der kritischen militärischen und zivilen Kommando-, Kontroll- und Kommunikationszentren geben. Ein effektives, in Europa und in den USA aufgebaute „Counter Force“-Schild könnte dann die „überlebenden“ und gegen die Vereinigten Staaten abgeschossenen russischen Atomraketen bereits in der Stratosphäre vernichten.
Wem das etwas weit hergeholt erscheint und wer das gar als „Verschwörungstheorie“ lächerlich machen will, der sollte sich die todernst zu nehmende Diskussion zu diesem Thema in US-Fach- und Militärkreisen ansehen. Als Beispiel sei hier auf eine Studie in der Frühlingsausgabe 2013 des „Strategic Studies Quarterly“ der „Air University“ der US-Luftwaffe verwiesen(2). Darin zeichnen die beiden Autoren, die Professoren Keir A. Leiber und Daryl G. Press die Entwicklung der US-Atomkriegsstrategie unter der Präsidentschaft von Obama nach und stellen fest, dass unter seiner Ägide das US-Militär von Anfang an konsequent die Kapazität eines Erstschlags gegen Russland und China anstrebt, ohne einen nuklearen Gegenschlag befürchten zu müssen.
Wörtlich schreiben die beiden Experten der Nuklearkriegsführung, dass sie auf Grund der Faktenlage zu dem Schluss gekommen sind, „dass die Vereinigten Staaten absichtlich das Ziel des „strategischen Primats“ (Vorherrschaft) verfolgen, also die Fähigkeit zu erlangen, die Kernwaffen (sowie andere Massenvernichtungswaffen) des Gegners auszuschalten. Aber die (offensiven) US-Atomwaffen sind nur ein Mittel (in einer ganzen Palette von Instrumenten) zur Erreichung dieses Ziels. Tatsächlich umspannen die Bemühungen, die strategischen Streitkräfte des Gegners zu neutralisieren, also die Herstellung der strategischen Vorherrschaft, neben nuklearen Angriffskapazitäten fast jeden anderen Bereich der modernen Kriegsführung: von der Raketenabwehr über U-Boot-Bekämpfung, Spionage-, Überwachungs- und Erkennungssysteme, offensive Cyber-Kriegsführung, konventionelle Präzisionsschläge über lange Distanzen.“
Russland und China sind natürlich angesichts der wachsenden US-Bedrohung ihrer strategischen Abschreckungsmittel nicht untätig geblieben und insbesondere der Kreml hat eine Reihe von Maßnahmen ergreifen und technologische Neuerungen eingeführt, die es den USA unmöglich machen, im Ernstfall alle Atomsprengköpfe eines russischen Vergeltungsangriffs zu neutralisieren. Wenn aber die US-Aegis-Systeme in Europa und in den USA diesen Schutz nicht umfassend gewähren können, was NATO-Chef Stoltenberg weiter oben unter Verweis auf die Technologie der Aegis-Systeme angesprochen hat, weshalb werden dann diese teuren, angeblichen der Verteidigung dienenden Systeme dennoch in Europa rund um die Grenzen Russlands in Stellung gebracht?
Deshalb sollten wir uns die von Stoltenberg erwähnte Technologie etwas näher ansehen: Sowohl bei den See- als auch bei den landgestützten Aegis-Systemen werden die Raketen aus den Kanister förmigen Startvorrichtungen des Typs MK41 von Lockheed Martin im Senkrechtstart abgeschossen, das heißt aus vertikalen Rohren. Die senkrechten MK41-Kanister stehen geschützt im Bauch eines Schiffes oder zu Land in Bunkern. Jeder Kanister hat 8 Zellen mit je einer Rakete die im Schnellfeuer abgeschossen werden können. Für den so genannten anti-Raketen Schutzschild, also zur Bekämpfung von ballistischen Raketen werden die Rohre der MK41 Kanister mit der „Standard Missile“ SM 2 oder SM 3 bestückt. Aber das MK41-Abschusssystem kann noch viel mehr, aber darüber breiten die NATO-Kriegstreiber den Mantel des Schweigens aus. Dagegen findet man auf der Webseite des stolzen Herstellers des Systems, also bei Lockheed-Martin die Lösung des Rätsels.
Lockheed-Martin hebt bei der Beschreibung der technischen Charakteristika ihres Systems, so wie es auf den Aegis-Schiffen und jetzt auch auf der Luftwaffenbasis im rumänischen Deveselu eingesetzt ist, dass von den MK41-Kanistern „Raketen für jede Mission abgeschossen werden können. Anti-Luft, Anti-Schiff, Anti-U-Boot und Angriffsraketen gegen Bodenziele“. Jedes Startrohr sei „anpassungsfähig an jede Rakete“, egal ob es sich dabei um die längeren vom Typ der „Standard-Missile 3 (gegen ballistische Raketen) oder um Tomahawk (gegen Bodenziele) handelt“. Und bei der Erwähnung des Letzteren läuten plötzlich die Alarmglocken ganz laut. Denn die mit nuklearem Gefechtskopf bestückbaren Tomahawk Cruise Missiles gehören zur Kategorie der sogenannten „atomaren Mittelstreckenraketen“, die laut INF-Vertrag von europäischem Boden verbannt sind!
Im Rahmen der so genannten „doppelten Nulllösung“ zur Stabilisierung der nuklearen Gleichgewichts zwischen den beiden Machtblöcken NATO und Warschauer Vertrag war der INF-Vertrag 1987 von US-Präsident Reagan und dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow unterzeichnen worden. Ein Jahr darauf ist der Vertrag in Kraft getreten und er gilt bis heute als Meilenstein in der Entspannungspolitik, denn er hat die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite bis zu 5.000 Km, wozu auch namentlich genannt die Tomahawk Marschrakete gehört, in Europa verboten.
Vor diesem Hintergrund ist die Zusicherung von NATO-Chef Stoltenberg bei der Einweihungsfeier der Aegis-Basis in Deveselu, dass die Basis „zu nahe an der russischen Grenze“ liege, um als Raketenabwehrbasis gegen russische Abschreckungsraketen eingesetzt zu werden, alles andere als beruhigend. Wozu soll dann die US-Aegis-Basis in Deveselu sonst dienen? Auch US-Geheimdienste haben seit Jahren bestätigt, dass der Iran weder eine Atombombe hat, noch an einer arbeitet. Letzteres wird durch die neuen internationalen Atomkontrollen im Iran ohnehin unmöglich gemacht. Und Nord-Korea wird noch lange Zeit nicht, wenn je, eine interkontinentale, ballistische Trägerrakete für eine Atombombe haben.
Hat Stoltenberg sich in Deveselu womöglich verplappert und ungewollt den wahren Zweck der US-Raketenbasis ganz nahe an der russischen Grenze verraten? Stecken in den Abschussrohren der MK41 Kanister der Aegis-Systeme zu Land und zur See rund um Russland womöglich gar keine SM2 oder SM3 Raketen sondern Tomahawks, die als Teil des US-Ziels des „strategischen Primats“ russische Kommando-, Kontroll- und Kommunikationszentren mit zielgenauen, kleinen Atomsprengköpfen bedrohen?
Wer weiß schon, außer dem Pentagon, was in den MK41 Kanistern steckt? Die Erfahrung, insbesondere beim Militär, lehrt uns, dass das, was möglich ist, vor allem wenn es ohne technische Probleme geht, auch gemacht wird. Und wer will den Beteuerungen Washingtons angesichts ihrer in der Vergangenheit gezeigten „Wahrheitsliebe“ auch nur noch ein Wort glauben? Die Russen tuen es nicht, und aus Moskau kommt seit langem die Warnung an Washington, das strategische Gleichgewicht in Europa nicht zu zerstören. Der INF-Vertrag ist daher in großer Gefahr. Und wenn Moskau auf die Aegis-Provokation der US-NATO in Rumänien und Polen entsprechend reagiert, wird Moskau von den Pressituierten in unseren Lügenmedien wieder als der alleinschuldige Bösewicht hingestellt werden.
Wir Europäer werden wieder einmal die Hauptleidtragenden des neuen Kalten Krieges sein, in den uns Washington mit aller Macht hineinsteuert. Denn der Einzige, der davon profitiert ist die US-amerikanische Großbourgeoisie, ihre Rüstungsindustrie und ihre Wallstreet, denn ein neuer Kalter Krieg wird die Europäer wieder gefügiger machen und sie werden wieder über jedes Stöckchen springen, das ihnen Washington hinhält. Zugleich wird die Gefahr wachsen, dass die US-Strategie der kontrollierten Konfrontation mit Russland, mit dem Ziel, auch den Kreml politisch in die Knie zu zwingen, aus dem Ruder läuft und ungeplant zum Heißen Krieg wird. Auch der würde hauptsächlich die Vasallen Washingtons in Europa treffen.
Quellenhinweise:
(1) https://www.youtube.com/watch?v=cvD4XtOcxs4
(2) http://www.au.af.mil/au/ssq/digital/pdf/spring_13/lieber.pdf
Der Autor war von 1977 bis 1993 in einer Schlüsselposition im NATO-Hauptquartier in Brüssel tätig und hat den Kalten Krieg 1.0 mitsamt der RYAN-Able Archer Krise, die 1983 die Welt an den Rand des nuklearen Abgrunds führte, hautnahe erlebt.